Frau Hettlage | Visible Mending | Boro und Sashiko | How to Mend – Step by Step

Judith Hettlage

JUDITH HETTLAGE

MODE UND NACHHALTIGKEIT. FÜR DIE MEISTERSCHNEIDERIN UND KOMMUNIKATIONSDESIGNERIN SIND DIESE BEIDEN WELTEN NICHT MITEINANDER ZU VEREINEN. IHR WEG AUS DEM DILEMMA HERAUS FÜHRTE SIE ÜBERS QUILTEN ZU BORO UND SASHIKO. DIE JAPANISCHEN FLICK- UND STICKKÜNSTE HELFEN DABEI, UNSERE BEZIEHUNG ZU KLEIDUNG ZU ÜBERDENKEN UND AUF EIN NEUES LEVEL ZU HEBEN.

Nachhaltige Mode. Der Begriff ergibt für mich keinen Sinn. Was soll nachhaltige Mode sein – wenn das inhärente Wesen von Mode ihre Vergänglichkeit ist? Mode kommt, um kurz darauf zu sterben. Trend nach Trend nach Trend. Jeder einzelne verspricht zwar der einzig Selig-Machende, das dauerhafte Non-Plus-Ultra zu sein – und doch gerät er tags darauf als Schnee von gestern in Vergessenheit. Mode orientiert sich nicht an Lebensdauer und Gebrauchswert. Sie will nicht funktional sein, nicht halten, schon gar nicht ein Leben lang!

Mode will ihre Träger:innen schmücken, ihnen die Möglichkeit bieten, sich immer wieder neu zu erfinden, herauszustechen aus der Masse, gar einzigartig zu sein. Und zugleich will Mode ihren Träger:innen das Gefühl vermitteln, zur Gesellschaft dazuzugehören. Weil sie tragen, was man trägt. Es ist ein Spiel aus Individualität und Konformität, das niemals zu Ende geht.

Unter Nachhaltigkeit verstehe ich das genaue Gegenteil. Nachhaltigkeit strebt nach Erhalt und Beständigkeit. Nach innerer Funktion denn nach äußerem Schein.

„Wenn wir flicken und sticken, wenden wir uns unserer Kleidung aufmerksam zu. Wir halten sie in Händen und erfahren etwas über Qualität, Beschaffenheit, ihr Wesen. Zudem besteht die Chance, dass man Stich für Stich für Stich auch auf seine eigenen Unzulänglichkeiten anders blickt. Nichts und niemand muss perfekt und picobello sein, was für eine Entlastung.“

Ich habe keine Antwort darauf, wie wir diese beiden Welten miteinander versöhnen wollen, es ist und bleibt vermutlich ein Dilemma, das es auszuhalten gilt, ambiguitätstolerant. Zumal wir nicht erst seit Kurzem über den Charakter von Mode, über Sinn und Unsinn sprechen. Schon 1967 hat René König in seinem Buch „Kleider und Leute“ geschrieben: „Den einen erscheint die Mode als das schlechthin Böse, als das Verdammenswerte an sich. Für die anderen erschließt sie mit dem Neuen, das sie bringt, dem Leben auch immer neue Horizonte, macht sie reicher, vielfältiger und anziehender; sie wirkt sich auch als mächtiger Antriebsfaktor der Wirtschaft aus, wogegen die ersteren in ihr nur Verleitung zum Luxus und Wohlleben, schließlich zur Verderbnis der Sitten erblicken. Zwischen diesen beiden Formen scheint keine Versöhnung möglich.“ Von einem System namens Fast Fashion, inzwischen sprechen wir schon von Ultra Fast Fashion, waren wir damals noch weit entfernt – mit all seinen sozialen und ökologischen Verwerfungen…

Und was wünschst du dir?

Einzig den Käufer:innen die Verantwortung aufzuerlegen, finde ich problematisch. Dennoch wünsche ich mir sehr, dass jede:r Einzelne mit einem reduzierten Kaufverhalten sein Quäntchen dazu beiträgt, die riesigen Klamottenberge abzubauen. Und die Modebranche nicht zum Mitverursacher des Dernier Cri wird. Dem letzten Schrei einer zu Tode geshoppten Welt.

BIO

Judith Hettlage ist Schneiderin (Meister und Schnittdirectrice) und Kommunikationsdesignerin (Schwerpunkt UI/UX Design). Im Zuge einer sich anbahnenden digitalen Fatigue hat sie sich an ihre „verstaubte“ Idee des Quiltens erinnert, die sie schon während ihrer zwei Auslandssemester auf der Academy of Art (ACC) in San Francisco gefesselt hat. Die angloamerikanische Handwerkskunst passt für sie perfekt in die Zeit, persönlich wie gesellschaftlich. Quilts werden gerne aus Stoffresten oder gebrauchten Textilien gefertigt und erfahren durch die Bewegung „The New Crafts Movement“ eine zunehmend politische und feministische Ausrichtung.